Besonders schön war Gulliver nicht. Dem Pferd hatte die Natur einen plumpen Körper gegeben, der zum langen Hals einen komischen Kontrast bildete, dazu waren seine Pforderpfoten ein bisschen zu kurz, was dem Tier vor allem beim Traben einen lächerlichen Gang schenkte.
Außerdem hatte Gulliver das ganze Leben hindurch nichts Gutes zustande gebracht. Die Tatsache, noch am Leben zu sein, verdankte er wahrscheinlich seiner Fügsamkeit, die aus ihm ein für Anfänger höchst geeignetes Pferd machte.
Ursprünglich den Landarbeiten gewidmet, war Gulliver später ein perfektes Schulpderd geworden. Dabei hatte nie Luciano den geringsten Grund zur Reue gehabt.
Es gab aber etwas, einem Märchen ähnlich, das die sonst eintönige Geschichte des Pferdes belebte. Der ehemalige Besitzer Gullivers, ein Bauer mit einer masslosen Neigung zum Trinken, behauptete immer wieder und zwar mit einer zu seiner Trunkenheit im strikten Verhältnis stehenden Überzeugung, das Pferd könne sprechen. Doch niemand glaubte es ihm, es war wahrscheinlich ein vom Wein hervorgerufenes Märchen.
Als Marco, ein junger Medizinstudent, den Stall betrat und sich das Tier ansah, gefiel es ihm am besten, besser gesagt er verliebte sich in Gulliver. Marco liebte zwar alle Pferde, doch an Gulliver entdeckte er etwas, das es von allen anderen Pferden unterschied und er nicht zu ermitteln vermochte. Monate später, als er das Pferd kaufte, war er über die vermutliche Sprechfähigkeit Gullivers völlig im Dunkeln. Der Reitstallinhaber hatte alles gemacht, damit die Wundernachricht dem Jungen erspart blieb, weil er fürchtete, Marco sonst hätte das Pferd nicht gekauft.
Marco war von seinem Tier begeistert. Tatsächlich konnte er sich dem langweiligen Reitunterricht entziehen, weil das Pferd der beste Lehrer war. Die beiden zogen jeden Tag stundenlang durchs Land und, wenn etliche Schwierigkeiten vorkamen, zum Beispiel beim Überqueren einer Strasse oder beim Reiten an einem Kanalufer entlang, dann hatte sich Marco einfach auf das Pferd zu verlassen und alles ging seine beste Bahn.
An einem Sommernachmittag wurden die beiden mitten auf dem Land von einem heftigen Gewitter überrascht und mussten zwangsläufig in einem Bauernhof Schutz finden. Der Sturm wollte nie enden und bald brach die Dunkelheit ein. Die Rückkehr erwies sich sofort besonders schwierig, weil Pferd und Reiter unbedingt einen dichten Wald passieren mussten, wo viele durch den Wind zerbrochene Bäume gefallen waren und nun quer auf dem Boden lagen und damit eine gefährliche Falle bildeten.
Da geschah es zum ersten Mal. Während Marco mit aller Mühe versuchte, sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen, hörte er eine tiefe, kehlige Stimme. “ Mach dir keine Sorgen“ so ertönte es „wir werden davonkommen, drauf kannst du dich verlassen!!“ Der Junge wurde dabei fast ohnmächtig, ihm schwindelte es. “ Mein lieber Gott, das Pferd hatte gesprochen!!“ Einen Augenblick blieb Marco bewegungslos im Sattel sitzen, dann beugte er sich nach vorne und streichelte di Mähne Gullivers. “ Mich hole der Teufel,
kannst du sprechen?“ Da wiehrte das Pferd zur Bestätigung.
Lange Zeit bewahrte zwar Marco das Geheimnis über da Wunder,das im Wald vorgekommen war, vor allem weil er fürchtete, in ein Irrenhaus geschickt zu werden. Jedenfalls,bevor er davon mit irgend jemandem sprach, brauchte er eine Bestätigung.Tatsächlich hatte er im Bauernhof, wo er und das Pferd vorm Gewitter Schutz gefunden hatten, ein paar Schnaps getrunken und deswegen konnte die ganze Geschichte eine Täuschung sein, um so mehr weil er am Alkohol nicht gewohnt war.
So versuchte er abermals, wenn auch mit grosser Vorsicht, das Pferd zum Sprechen zu veranlassen. Gulliver reagierte nicht sofort auf seine Forderungen, anfangs guckte er einfach den Jungen mit blinzelnden Augen an, als wollte er sich über ihn lustig machen.Doch eines Tages- es war wiederum im Wald – passierte was Marco gewünscht und gleichzeitig gefürchtet hatte: plötzlich drehte das Pferd das Maul zu ihm und begann zu sprechen.
“ Ach, mein Schreck, das stimmt. Also war es nicht des Alkohols wegen. Wie bist du dazu gekommen?“
“ Eine menschliche Sprache zu lernen, eine jede, ist für Pferde ganz einfach. Nur brauchen wir es überhaupt nicht. Wir können Menschen sowieso verstehen.“ “ Wie lange kannst du das?“ “ Seit vielen Jahren.“
Marco spürte, wie er der Ohnmacht ganz nahe war. Er atmete tief, setzte sich dann auf einen Baumstamm und steckte sich eine an. Gulliver musterte ihn neugierig, dann setzte er fort: “ Ich möchte dich nur um einen Gefallen bitten. Du sollst keinem das Geheimnis verraten, das könnte schwere Folgen haben.“
“ Ich verstehe dich nicht.“
„Möglicherweise wirst du mich eines Tages verstehen.“
Lange Zeit verging, bis Marco endlich entschloss, Luciano das Wunder mitzuteilen. Wenn auch widerspenstig musste der Stallinhaber zugeben, er hätte schon lange her davon gehört, daran hegte er aber etliche Zweifel, weil er der festen Überzeugung war, dass Pferde nicht sprechen können. Marco sollte mit niemandem davon sprechen, wenn er die Gefahr nicht laufen wollte, sich dem Hohn aller Leute auszusetzen. Und eine Weile blieb es dabei.
Dann trat aber etwas Unerwartetes ein. Marcos Vater, der eine kleine Schuhfabrik besass, machte Bankrott. Infolgedessen wurde dem Jungen schwer seine Abitur fortzusetzen, schlimmer noch das Pferd zu unterhalten. Verzweifelt überlegte Marco, wie er zum Geld kommen konnte. War ein sprechendes Pferd doch nicht ein Wunder, das benuzt werden konnte, um einen Haufen Geld zu verdienen? Schliesslich hatte die Sache nichts Böses an sich.
Kurz vor dem Pferdefest, das jedes Jahr Anfang Oktober im Dorf stattfand, hatte Marco eine Unterredung mit dem Bürgermeister,der für die Organisation der Veranstaltung zuständig war. Zwar äusserte der Bürgermeister unverschämt seine Skepsis über die Möglichkeit, dass ein Pferd sprechen könnte, versprach aber dem Jungen eine grosse Geldsumme, falls seine Vermutungen der Wahrheit entsprechen würden.
Lange Zeit und entsprechende Mühe brauchte Marco, um das Pferd zu überreden, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Gulliver war streng dagegen, er hatte das Vorgefühl, dass ihm die Sache zum Verhängnis werden könnte. Doch endlich, aus reiner Liebe zu seinem Freund, gab das Pferd nach.
Eine grosse Menge hatte sich im Veranstaltungsplatz gesammelt. Die Geschichte des vermutlich sprechenden Pferdes hatte sich weitgehend verbreitet und mehr als tausend Menschen hatte den Ort erreicht. Die meisten Pferde waren in einem grossen Paddock angesammelt worden, während Gulliver, dem eine Sonderbehandlung vorbehalten war, allein in einem kleineren stand. Das Pferd war schlechter Laune: obwohl ihn Marco mit matte Augen anspornte, endlich zu Wort zu kommen, war sich das Pferd nicht im klaren, sollte er es tun oder nicht.
Erst als ein kleines Kind den Zaun des grossen Paddocks übersprang und zu den dort weidenden Pferden zulief, erinnerte sich Gulliver daran, dass er ein sprechendes Pferd war. So lief er zur vorm Schrecken brüllenden Mutter des Kindes und rief: “ Holen Sie mal Ihr Kind rüber und zwar schnell, damit es nicht die Gefahr läuft, durch einen Fusstritt getötet zu werden. Und nächstes Mal passen Sie besser auf den Baby auf!!“
Bis dann hatte die Menge in der Erwartung des sprechenden Pferdes meistens gelächelt und hönische Bemerkungen gemacht. Jetzt passierte aber was anderes. Während die unvorsichtige Mutter ohnmächtig zu Boden fiel, begann die Menge wie ein Baum vorm Wind zu schwanken. Jeder versuchte in irgendwelche Richtung zu entweichen, als ob man sich vor einer tödlichen Gefahr schützen wollte. Männer stiesssen aufeinander, Frauen schrien, Kinder fielen und riskierten, von der verwirrten Menge zerstampft zu werden.
Da schoss ein für die öffentliche Ordnung zuständiger Unteroffizier der Karabinieri, um die Menge wieder zur Vernunft zu bringen, das ganze Magazin seiner Maschinenpistole in die Luft leer.
Gulliver hatte nie in seinem Leben einen Feuerwaffenschuss gehört, geschweige denn mehrere. Und obgleich er ein sprechendes Pferd war, machte er einfach was alle Pferde unter diesen Umständen gemacht hätten: er rannte einfach davon.
Trotz aller Versuche wurde Gulliver nicht mehr wiedergefunden.
Geschrieben und gesandt von Giancarlo De Paoli, Lehrer der deutschen Sprache an der Mailänder Universität des Dritten Alters.
Milano, den 4. April 2014.